Fallbeispiele

Die dritte Richtung

Werner Salbach* hat ein Studium zum Maschinenbauingenieur absolviert und arbeitet seit acht Jahren in einem internationalen Energietechnikunternehmen. Er wurde in den vergangenen Jahren kontinuierlich befördert, vom Projekt- zum Teamchef bis hin zum Bereichsleiter. In dieser Position ist er verantwortlich für 23 Mitarbeitende.

Nun hat ihn sein Chef, der zugleich Mehrheitseigentümer des Unternehmens ist, zum Personalentwicklungsgespräch gebeten und ihm ein aus seiner Sicht sehr überraschendes Angebot unterbreitet: Salbach soll zu Beginn des nächsten Jahres in den Vorstand berufen werden und verantwortlich zeichnen für den gesamten Bereich Forschung und Entwicklung – eines der Herzstücke des Unternehmens. „Mich hat dieses Angebot total überrascht, weil ich gar nicht gedacht hätte, dass mein Chef mir so viel zutraut. Ehrlich gesagt bin ich schon ein bisschen geschmeichelt, aber eigentlich will ich diesen Job gar nicht. Ich würde mich immer mehr aus dem operativen Geschäft entfernen. Das einzig Attraktive an dem Angebot ist die große Gehaltssteigerung.“

So beschreibt Salbach mir gegenüber seinen inneren Konflikt. Da er auch noch von einem Headhunter ein Angebot erhalten hat, zu einem sehr jungen und dynamischen Energieversorger in der Nähe seines Wohnortes zu wechseln, befindet sich Salbach in einem sogenannten Entscheidungsdilemma: Welchen Job soll er nun annehmen? Welche Kriterien soll er stärker gewichten als andere? Sowohl der eine als auch der andere Job haben Vor- und Nachteile. Er fühlt sich wie gelähmt bei der Entscheidungsfindung.

Der Auftrag an den Coach

Werner Salbach möchte dringend „qualifizierte Unterstützung“ für seine Entscheidung und Klarheit für seinen nächsten beruflichen Schritt bekommen. Er fühlt sich wie in einer Sackgasse, weil er bei der Suche nach dem richtigen Weg immer wieder „über die selben Aspekte nachdenkt und ins Grübeln kommt, statt Klarheit zu gewinnen“.

Die Neuformulierung des Coaching-Anliegens

In einer ersten gemeinsamen Coaching-Sitzung wird deutlich, dass Herr Salbach sich in der Vergangenheit nie mit Entscheidungen schwer getan hat. Diese völlig neue Erfahrung, wie in einer Entscheidungsparalyse zu stecken, ärgert und beängstigt ihn zugleich. Nachdem ich Herrn Salbach andeute, dass die Entscheidungsstarre möglicherweise tiefer liegende Beweggründe haben könne, die nicht unbedingt nur mit dem Abwägen dieser zwei Alternativen zu tun haben, verständigen wir uns darauf, den Coaching-Auftrag zu modifizieren: Welche Beweggründe verbergen sich hinter meiner Entscheidungslosigkeit?

Die Schritte zum Ziel

Herr Salbach begrüßt meinen Vorschlag, dass wir uns in zunächst drei 90-minütigen Sitzungen mit seinem Thema befassen. Dabei empfehle ich, dass wir uns nach der Neuformulierung seines Auftrags zunächst mit den möglichen Ursachen für die Stagnation in seinem Entscheidungsprozess befassen. Haben wir diesen Knoten gelöst, werden wir gemeinsam Kriterien für einen Plan erarbeiten, der Herrn Salbach inhaltlich und formal zufrieden stellt.

Obwohl Werner Salbach sich bisher für entscheidungsstark hielt und es ihm auch von seinen Mitarbeitenden und Vorgesetzten so gespiegelt wurde, schlägt er sich nun erstmals mit der Frage herum, welche der beiden Jobchancen die bessere sei. Da er dabei statt Transparenz immer mehr Unklarheit erlebt, findet er keine befriedigende Antwort. Das hohe Gehalt und die Befriedigung der Eitelkeit bei der innerbetrieblichen Beförderung in den Vorstand schmeicheln ihm sehr, dagegen steht aber seine Furcht, operativ zu viel an Verantwortung aufzugeben. Hinzu kommt, dass sein Chef ihm schon seit Jahren das Gefühl der Unterordnung und Fremdbestimmtheit vermittelt – ein Gefühl, das er unbedingt in seinem Leben loswerden will. Das Jobangebot des Headhunters böte ihm bei etwa gleichbleibendem Gehalt vielleicht eine neue Chance auf mehr Mitsprache und Einfluss, zudem kürzere Fahrwege und damit auch mehr Zeit, jedoch inhaltlich womöglich keine neue Herausforderung.

Ich schlage ihm ein bewährtes Vorgehen vor, dass ich schön häufig sehr erfolgreich in solchen Entscheidungsdilemmata eingesetzt habe, in denen sich mein Klient zwischen zwei Alternativen nicht entscheiden konnte. Der Charme der Methode besteht darin, Bewegung in den Stillstand eines Entscheidungsprozesses zu bringen. Tetralemma – der Begriff stammt aus dem Altgriechischen, wobei tetra vier und lemma Annahme in der Mathematik bedeuten – heißt das Modell und stammt aus der systemischen Aufstellungsarbeit. Es löst eine Sackgassensituation so auf, dass man die Zweier-Polarität einer Entscheidung aufbricht und die vier Ecken des Tetralemmas nutzt. Dazu lasse ich den Klienten die vier Ecken im Raum frei wählen. Durch das körperliche Bewegen lösen sich auch die starr gewordenen Gedanken. Denn ändert sich die äußere Sichtweise, so vergrößert sich dadurch auch die Chance, dass die inneren Perspektiven wechseln, die eingefahrenen Denkschemata sich aufweichen und der Klient von einer höheren, distanzierten Ebene neue Einsichten gewinnt.

Wir stellen uns also mitten im Raum auf, und ich gebe Herrn Salbach ein DIN-A3 großes Blatt Papier und einen Stift und bitte ihn, dieses Blatt mit „Das Eine“ zu beschriften und an irgendeiner Stelle in den Raum zu legen. Danach fordere ich ihn auf, sich genau auf dieses Blatt zu stellen und zu erspüren, wie er sich bei dieser Entscheidung fühlt. Oft kommen dann genau noch einmal die Fakten zur Sprache, die der Klient schon im Sitzen vorgetragen hat. So auch bei Herrn Salbach. Ich aber hebe bewusst wieder darauf ab, den Klienten auf seine Gefühle bei dieser Entscheidung zu verweisen. Hierbei vernimmt der Klient häufig erstmals ein unangenehmes oder angenehmes Gefühl, das sich bei dieser Alternative auftut. Bisweilen löse ich eine Welle von Assoziationen aus, die der Klient mit den soeben erfahrenen Gefühlen verbindet. Danach bitte ich Herrn Salbach, auf ein weiteres Blatt Papier ebenso groß und deutlich wie zuvor „Das Andere“ zu schreiben. Oft wählen Klienten für dieses Blatt Papier einen Platz im Raum, weit weg von dem ersten, und zählen auch hier die bereits bekannten Fakten – Pros und Cons – auf.

Deshalb hebe ich wieder auf die Gefühle ab, die Werner Salbach mit diesen Fakten assoziiert und erfahre Emotionen, die mit den Gedankenschleifen verbunden sind. Der bisher sehr souveräne Herr Salbach wird jetzt richtig gereizt und ist von sich selbst genervt.

Daher öffne ich die dritte Ecke des Tetralemmas und lasse ihn auf das dritte Blatt Papier „Beides“ schreiben. Er ordnet dieses gegenüber von den beiden ersten Blättern an, findet das Blatt „Beides“ „völlig absurd“, denn es sei ja gar nicht möglich. Richtig: In der bisherigen Logik nicht, aber es geht hier vielmehr darum, durch etwas Absurdes die Starre im Entscheidungsprozess aufzulösen und fantastische Ideen zu entwickeln wie: „Ich nehme morgen den Job an, versetze mich in die Zukunft und kann dann sehen, ob mir die operative Arbeit wirklich fehlt. Oder aber ich verwandele mich in einen Unsichtbaren, schaue mir das Angebot des Headhunters von einer unbeobachteten Position aus an und weiß dann, ob er wirklich reizvoll ist.“

Es kommen weiter immer absurdere Ideen und Phantasien meines Klienten, die uns sogar zum Lachen bringen. Und am Ende kommt ein ernst zu nehmender Vorschlag: Herr Salbach will seinem Chef sagen, dass er sehr an seiner operativen Arbeit hängt und mit ihm Wege erarbeiten möchte, wie er auch im Vorstand noch ausreichend Zeit für operative Aufgaben findet. Gleichzeitig könnte er das Angebot des Headhunters noch genauer prüfen, in dem er sich einem entfernten Bekannten anvertraut, der in dem Unternehmen arbeitet, und ihn noch genauer zu den Vorzügen und Nachteilen dieses Arbeitgebers befragt. Deutlich wird: Herr Salbach öffnet seine Gedanken, er wird wieder lockerer und souveräner und erkennt, dass seine Situation gar nicht so unerträglich ist, sondern dass er für beide Jobs eine sehr gute Ausgangsposition hat.

Dann bitte ich Herrn Salbach, ein viertes Blatt mit dem Wort „Keins“ zu beschriften. Zunächst ist er sehr verblüfft. Er schweigt und schweigt und sagt lange nichts, ich auch nicht. Dann erkenne ich eine Entspannung Salbachs, und mich empfängt ein Lächeln, das über sein Gesicht huscht. Herr Salbach lehnt sich zurück und meint: „Das ist es, eigentlich habe ich keinen Bock auf beides. Ich will nämlich `was ganz Anderes. Ich will raus aus dieser Rolle des ewig Angestellten und Untergeordneten, ich will mehr Selbstbestimmung, aber ich habe mich nie getraut, das zuzulassen.“ Es folgt eine Welle von Gefühlen und Sehnsüchten, Wunschvorstellungen und Plänen.

Die Erkenntnis

Ich merke mir die wichtigsten Aspekte und notiere sie nach unserer Verabschiedung im Detail. Bei unserer dritten Coaching-Sitzung arbeiten wir an einem Plan, wie Herr Salbach seinen Wunsch nach mehr Mitsprache und Einfluss in seinem Beruf steigern kann. Wir erarbeiten ein neues Ziel, das am Anfang unseres Coachings nicht im Geringsten sichtbar wurde: Herr Salbach sucht einen Weg, der ihm mehr Selbstbestimmung und Einfluss im Job ermöglicht. Dafür erarbeiten wir in der nächsten Sitzung folgende Strategie: Herr Salbach nimmt den Job des Headhunters nicht an, er eröffnet seinem Chef einen Plan: Prinzipiell möchte er sehr gern weiter für das Unternehmen arbeiten, aber nicht im Vorstand, sondern im Operativen. Statt der Beförderung und der deutlichen Gehaltssteigerung bittet er um eine berufsbegleitende MBA-Ausbildung, die ihn befähigt, nach zwei Jahren mit dem nötigen betriebswirtschaftlichen Know-how eine Tochtergesellschaft des Konzerns zu übernehmen. So erreicht Herr Salbach sein Ziel, mehr Führungseinfluss zu erlangen und gleichzeitig im operativen Geschäft zu bleiben.

Er verzichtet auf Geld, erhält aber dafür eine sehr anerkannte betriebswirtschaftliche Zusatzqualifikation, die er sich schon lange gewünscht hat, selbst aber nicht hätte finanzieren können. Langfristig verschafft ihm diese Ausbildung mehr Führungsverantwortung und Selbstbestimmtheit. Sein Chef wiederum investiert in die Qualifikation seines Unternehmens, indem er einen erfahrenen, motivierten Leistungsträger weiterbildet statt ihn nur durch ein höheres Gehalt zu motivieren. Somit behält er diesen Mitarbeitenden, statt ihn an ein fremdes Unternehmen zu verlieren. Herrn Salbach die Führung einer Tochtergesellschaft zu übergeben, ist viel risikoärmer als einem fremden Mitarbeitenden. Denn er weiß seit acht Jahren, was er an ihm hat. Eine klassische Win-Win Situation – beide Seiten profitieren von der Lösung und haben einen hohen Anreiz, dieses Ziel ernsthaft zu erreichen.

Als wir unsere Zusammenarbeit beenden, ist Herr Salbach sehr optimistisch und bedankt sich bei mir, dass ich ihn, nachdem ich ihm ja am Anfang „zunächst den Kopf total verdreht“ hatte, bei einem wichtigen Erkenntnisprozess begleitet habe: bei seinem Bedürfnis nach mehr Freiheit und Mitbestimmung im Beruf. Er versteht nun auch, warum er seine Entscheidung nicht treffen konnte, denn weder das eine noch das andere hätten ihn auf seinem Weg weitergebracht. Das Dritte aber zu finden – das war für ihn der Weg.

* Name aus Personenschutzgründen geändert.

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